Der Weg zum Sinn

Nach einem Schicksalsschlag hinterfragt Thomas Müller sein bisheriges Leben. Er beendet seine Karriere als IT-Unternehmer und verzichtet auf ein profitables Einkommen. Doch dafür erhält er etwas, was für ihn wirklich zählt.

Von Alina Fischer

Thomas Müller

Es scheint wie ein ganz normaler Tag. Er sitzt im Auto, denkt an den nächsten Geschäftstermin. Plötzlich ruft der Kunde an und sagt den geplanten Termin ab. Er kann seine Zeit jetzt irgendwie anderweitig verbringen. Zufällig sieht er eine Radiologiepraxis und erinnert sich: Seine Sekretärin hat ihn mehrmals ermuntert, sich durchchecken zu lassen. Sein Hals sei so dick. Nicht ahnend, dass dieser Gang lebensentscheidend wird, tritt er ein. Die Diagnose am gleichen Tag lautet: Schilddrüsenkrebs. Dafür ist noch nicht mal eine Biopsie nötig.

„Das war für mich ein enormer Schock. Man fühlt sich mit 28 eigentlich unsterblich, als ob man Bäume ausreißen könnte“, sagt der heute 46-jährige Thomas Müller aus Dernbach, einem Ort in Rheinland-Pfalz. Dieser Schicksalsschlag wird dafür sorgen, dass er einen neuen Lebensweg einschlägt. Er wird seinen Job in der IT aufgeben, seinem ehemaligen Leben den Rücken kehren, eine Ausbildung in der Pflege machen und später ein neues IT-Unternehmen gründen. Diesmal unter ganz anderen Vorzeichen. Dazwischen aber liegt erstmal ein Jahr mit Arztgespräche und Untersuchungen.

In dieser Zeit ist er immer faszinierter von seinen neuen Bezugspersonen, vor allem von den Pflegekräften. Egal wer im Krankenbett liegt – sie versuchen täglich, durch freundliche Worte und ein Lächeln ihre Patienten zumindest für einen kurzen Augenblick ihre Sorgen vergessen zu lassen. „Ich fühlte mich zum ersten Mal wirklich als Mensch wahrgenommen. Ich war weder der junge Mann, der erfolgreich war, noch der Geschäftsführer – sie sahen in mir den Menschen, der ich war. Das hat mich unfassbar beeindruckt“, erinnert sich Thomas Müller.

Besonders geprägt hat ihn eine Krankenschwester. Er lag im Krankenbett, kurz nach seiner Operation an der Schilddrüse, als ihm seine Assistentin erzählte, dass seine Firma einen Auftrag so erfolgreich ausgeführt hatte, dass eine Bonusauszahlung bevorstand. „Ich konnte nicht sprechen, es ging einfach nicht, also lag ich nur da und hörte zu.“ In diesem Moment kam eine Krankenschwester ins Zimmer und bat die Assistentin rauszugehen, denn es sei Essenszeit. Sie zog die Vorhänge auf und fing an, Smalltalk zu quasseln. Sie erzählte, wie schön doch das Wetter sei, fragte, ob es ihm gut gehe, ob sie helfen könne, was für ein gutes Essen es heute gebe, es sei nämlich Puddingtag und der Pudding hier schmecke besser als jeder Selbstgemachte. In diesem Moment merkte er: Dieser Monolog der Krankenschwester war genau das, was er in dem Moment brauchte. Er wollte nicht über die Arbeit nachdenken, die Erzählungen über den Pudding taten ihm gut.

Von der IT in die Pflege

Mit der Rückkehr in den Berufsalltag beginnt die Normalität. Thomas Müller nimmt Aufträge an, Termine wahr in seiner Funktion als Geschäftsführer eines IT-Unternehmens. Alles ist so gut wie beim Alten, aber auch wieder anders: „Ich spürte auf einmal eine gewisse Leere in mir“, erzählt er. Es sei, als hätte er einen Teil von sich im Krankenhaus zurückgelassen. Seine Arbeit erfüllt ihn nicht mehr. Der Erfolg, das Geld, es macht ihn nicht mehr glücklich. Er erinnert sich an die Motivation der Pflegekräfte, die ihn gesund pflegten, und beschließt, sich zum Altenpfleger ausbilden zu lassen.

Sein Umfeld belächelt ihn nur für seine Entscheidung. Alle denken, er habe nunmal eine schwere Phase hinter sich, er müsse sich erst einmal ausprobieren. Thomas Müller hätte sich vor seiner Krankheit nie vorstellen können, im sozialen Bereich zu arbeiten. Es stand nicht auf dem Programm. Er wollte immer etwas erfinden, bauen, entwickeln, Innovationen schaffen. Mit sechs Jahren kam er zum ersten Mal mit einem Computer in Berührung. Mit acht Jahren fischte er kaputte Schläuche aus dem Müll des Fahrradgeschäftes seines Vaters, flickte sie und verkaufte die Schläuche auf der Straße. Mit 21 Jahren gründete er sein erstes IT-Unternehmen.

Mit Anfang 30 kehrt er zurück auf die Schulbank und schließt seine Ausbildung als Altenpfleger ab. Es folgen 14 Jahre Arbeit in der Alten- und der Krankenpflege. Die Arbeit in einer Reha-Klinik erweist sich als der beste Entscheidung in seinem Leben. Hier wird er Stationsleiter und lernt seine Frau kennen. Hier ist er erfüllt: „Ich bekam teilweise Patienten eingeliefert, die im Wachkoma lagen. Nach einem halben bis dreiviertel Jahr verließen sie mit einem Lächeln die Station. Sie konnten selber gehen! Das war der Knaller, der Wahnsinn!“

Schnell bemerkt er die Herausforderungen des Berufes. Überstunden. Geringes Gehalt. Schichtdienst. Mit der Zeit kommen finanzielle Einbußen hinzu. Im Video erzählt er von den Problematiken und wie die Arbeit in der Pflege ihn verändert hat:

Ein Start-up, das Lösungen bietet

Im Berufsleben in der Pflege fällt ihm eine weitere Besonderheit auf: Er merkt, dass viele Personen aus dem Kollegium die Klinik verlassen. Einige halten es nicht aus, schwierigen Schicksalsschlägen täglich zu begegnen. Andere gehen aus erfreulicheren Gründen wie einer Schwangerschaft. Diese Menschen haben eines gemeinsam: Sie kommen nicht mehr zurück.

Thomas Müller sucht nach einer Lösung, um diesen Pflegekräften den Wiedereinstieg in die Pflege zu ermöglichen, auch wenn sie zum Beispiel aufgrund von Kinderbetreuung nicht mehr im Schichtbetrieb arbeiten können. Dafür nutzt er seine Erfahrungen aus allen Lebensstationen und entwickelt eine Web-App namens Curassist, die Pflegefachkräften den Einstieg in die Selbstständigkeit erleichtern soll. Dadurch können Pflegekräfte selbst entscheiden, wann, wo und wie viel sie arbeiten möchten. Ihre Zeit so einteilen, dass das Kind in den Kindergarten gebracht werden kann. Oder falls es mal zu viel wird, die Stunden reduzieren.

Mit der Gründung des Start-ups vor fünf Jahren bemerkt er schnell: Die freiberufliche Tätigkeit für eine Pflegefachkraft ist hochkomplex. Zwei Jahre lang recherchiert er intensiv die konkreten Hürden der Selbstständigkeit in der Pflege. Er telefoniert mit verschiedenen Krankenkassen, um sich einen Blick über die Verfahren zu verschaffen. Damit er auch die gesetzliche Seite versteht, sucht er sich rechtlichen Beistand. Die Ergebnisse seiner Recherche zeigen: Es gibt kein einheitliches Prüf- und Abrechnungsverfahren bei den Krankenkassen. Für die Pflegefachkraft bedeutet dies, sie muss sich bei jedem Patienten einem neuen Verfahren unterziehen.

Curassist möchte Pflegefachkräften das Verfahren erleichtern und übernimmt die gesamte Kommunikation sowie die Abrechnung mit der Krankenkasse. Thomas Müller erzählt im Video, was ihn in Stresssituationen besonders motiviert:

Eine weitere Sache bereitet ihm Freude: sein Ehrenamt. Zusätzlich springt er ehrenamtlich für eine Pflegerin in seinem Wohnort ein, wenn sie verhindert ist, sich um ihre pflegebedürftigen Menschen zu kümmern. So behält er als Unternehmer weiterhin den besonderen Kontakt zu den Menschen. Nur eine Veränderung in seinem Leben gibt es, auf die er auch verzichten könnte. „Da, wo durch Pflege ein Sixpack entstanden ist, ist durch Curassist ein Waschbärbauch entstanden”, witzelt er. Aber diesen Verlust kann er verkraften.

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